09.05.2023

43 Jahre und dreimal Krebs

Portrait einer Mutmacherin

"Soll ich die Haare hinter das Ohr streichen oder so lassen?“ fragt Tinna, bevor wir das Foto machen. Sie schaut noch einmal schnell in den Spiegel. „Ich sehe nun mal gerade so aus wie ich aussehe. Daran kann ich nichts ändern“.

Tinna (alle Namen wurden im Folgenden geändert) hat ein freundliches Gesicht und eine positive Ausstrahlung. Ihre Fingernägel sind sonnengelb, genau wie ihr T-Shirt und ihre Perlenohrringe. „Farblich muss immer alles zusammenpassen“ erzählt sie mir. Auch wenn es auf den ersten Blick nicht auffällt, Tinna trägt eine Perücke. Die kupferfarbenen glatten Haare reichen ihr bis zur Schulter. „Früher habe ich mir meine dunklen Haare auch kupferfarben gefärbt, deshalb habe ich diese Perücke gewählt. Aber meine Haare waren lockig.“ Jetzt erkennt man an Tinnas Schläfen kurze dunkle und zum Teil graue Haare. „Das kommt durch die Chemo, aber ich freue mich über jedes Haar, das wächst. Im Moment fühle ich mich noch wie ein Junge mit den kurzen Haaren, aber bald wird es wieder besser aussehen“. Wenn sie von ihrem Haar spricht, leuchten Tinnas Augen in freudiger Erwartung.

Ich bin beeindruckt von der jungen Frau und ihrer Geschichte. Tinna wird im Juni 44 Jahre alt und lebt in einer Kleinstadt in der Nähe von Würzburg. Sie hat eine bewegte Vergangenheit, denn Tinna war bereits dreimal mit der Diagnose Krebs konfrontiert.

Das erste Mal Krebs hatte Tinna mit 17 Jahren. Damals lebte sie noch in Bulgarien. Dem jungen Mädchen zog die Diagnose damals den Boden unter den Füßen weg. „Kurz zuvor hatte sich mein damaliger Freund von mir getrennt und ich litt unter schlimmem Liebeskummer“, erzählt sie mir. Doch sie überwand die Krankheit ein erstes Mal, nicht wissend, dass es kein einmaliger Schicksalsschlag gewesen sein sollte.

Im Anschluss an ihr Studium ging Tinna 2002 als Au-pair nach Deutschland. Hier lernte sie ihren Mann Markus kennen, entschied sich in Deutschland zu bleiben und heiratete ihn – sie bezeichnet ihn als ihre große Liebe: „Manchmal traue ich mich gar nicht so viel über uns zu erzählen, weil es nicht jeder so gut hat wie wir. Wir lieben uns sehr.“ Doch das Liebesglück wurde schon kurze Zeit später von erneuten Schicksalsschlägen überschattet. Zunächst verstarb Tinnas geliebter Großvater, kurze Zeit später suchte sie wegen eines angeschwollenen Lymphknotens im Halsbereich ihren Hausarzt auf. Daraufhin der große Schock. Hodgkin Lymphom. Schon wieder Krebs. Die damals 25-jährige musste sich erneut einer harten Chemotherapie unterziehen. Ihr Mann wich nicht von ihrer Seite und sie meisterte auch diese Therapie.

Entgegen aller Erwartungen wurde Tinna ein gutes Jahr nach Abschluss der Chemotherapie schwanger. Sie bezeichnet die Geburt ihres Sohnes Simon als Wunder und als Geschenk: „Viele junge Frauen haben Angst, nach einer Krebstherapie keine Kinder mehr bekommen zu können, aber mein Beispiel zeigt, dass es nicht ausgeschlossen werden kann.“ Daraufhin kann Tinna endlich ein normales Leben führen. Sie arbeitet im Kindergarten, liebt es ihren Sohn aufwachsen zu sehen und nutzt jede freie Minute, um Zeit mit ihrer Familie zu verbringen.

2022 sollte sich das Blatt für Tinna jedoch ein weiteres Mal wenden. Auffällig ist, dass auch der dritten Diagnose ein Schicksalsschlag vorausgeht. Ein schwerer Unfall ihres Vaters mit mehrwöchigem Krankenhausaufenthalt stellt Tinna und ihre Familie vor eine mentale und körperliche Herausforderung. Ihr Vater überlebt den Unfall mit nur wenigen langfristigen Nachfolgen, doch kurze Zeit später wird bei einer Routineuntersuchung beim Frauenarzt ein Knoten in Tinnas Brust festgestellt. Zwei Tage später wollte sie eigentlich zu ihrer Familie nach Bulgarien reisen. Doch plötzlich war sie wieder da. Die Diagnose Krebs. Es war ein vergleichsweise kleiner Tumor und Tinna hoffte, dass ihr eine erneute Chemo erspart bliebe. Doch ein Lymphknoten war bereits befallen und aufgrund ihrer Vorgeschichte entschieden sich die Ärzte doch für das volle Therapie Programm – OP, Chemo, Bestrahlung. Zum Glück, sagt Tinna, konnte Brusterhaltend operiert werden und sie habe auch nur kleinere Narben davongetragen, mit der sie optisch sehr zufrieden ist. Aber von ihren geliebten Haaren musste sie sich durch die Chemo ein weiteres Mal verabschieden. „Das ist schon sehr schlimm für mich. Ich fühle mich so nicht wohl und mit Perücke ist es einfach etwas Anderes. Ich weiß, man wird mir sagen, Hauptsache ich werde gesund und das stimmt ja auch. Aber meine Haare haben schon sehr viel damit zu tun, wie wohl und selbstbewusst ich mich fühle. Ein Glück wachsen sie jetzt schon wieder nach. Wenn ich im Juli wieder anfange zu arbeiten, sieht es hoffentlich schon wieder besser aus.“

Bei Tinnas dritter Krebsdiagnose im Juli 2022 war ihr Sohn Simon bereits ein Teenager. „Ich habe ihm schon vorher erzählt, dass ich zweimal krank war. Trotzdem war es natürlich für uns alle ein Schock. Manchmal haben wir zusammen darüber geredet, manchmal hat er aber auch lieber mit seinen Freunden gesprochen. Aber das ist ok und ganz normal. Man möchte in dem Alter nicht über alles mit seinen Eltern sprechen. Er hat natürlich auch viel im Internet gelesen. Einmal kam er zu mir und zeigte mir Statistiken aus dem Internet und sagte: Schau mal Mama, so viel Prozent der Betroffenen werden geheilt. Dann schaffst du das auch! Du wirst nicht sterben“. Tinna strahlt wieder über das ganze Gesicht, wenn sie von ihren Liebsten spricht. „Meine Familie ist für mich eine riesige Stütze. Mein Mann Markus begleitet mich ja schon das zweite Mail durch diese Krankheit. Er ist immer für mich da und war jetzt auch schon hier in der Reha zu Besuch. Als ich während meiner letzten Chemo auch viel über das Sterben nachgedacht habe, hat mir Markus gesagt, dass er ohne mich nicht leben will. Und ich möchte auch nicht ohne ihn leben.“

Tinna hat konkrete Pläne für die Zeit nach der Reha. Sie wird zunächst noch einige Wochen krankgeschrieben sein, aber im Sommer möchte sie wieder an ihren Arbeitsplatz in den Kindergarten zurückkehren. Doch nicht alles soll wieder genauso werden wir vor der dritten Erkrankung. „Ich möchte mir noch viel mehr Zeit für mich nehmen. Ich habe sehr oft lernen müssen, dass das Leben schneller zu Ende sein kann, als man denkt und ich möchte die Zeit, die ich habe nutzen, um Dinge zu tun, die mir Freude bereiten.“ Tinna ist ein sehr musikalischer Mensch. Schon vor der Erkrankung besuchte sie eine Musikschule, um ihre Gitarrenspielkünste weiter auszubauen. Daran möchte sie anknüpfen. „Außerdem habe ich mir fest vorgenommen, einen Tanzkurs zu besuchen. Salsa oder andere lateinamerikanische Tänze begeistern mich. Sie bringen so viel Energie und man kann auch zu Hause allein für sich tanzen. Außerdem überlege ich gerade, einem Chor beizutreten. Musik gibt mir so viel Freude und Kraft. Davon möchte ich mehr spüren.“

Außerdem haben sich Tinna und ihr Mann Markus von einiger Zeit einen großen Wunsch erfüllt und sich einen Wohnwagen gekauft. Schon während ihrer letzten Krebstherapie nutzten sie als Familie jede Gelegenheit für gemeinsame Ausflüge und kurze Urlaube. „Es muss gar nicht weit weg sein. Hauptsache fort. Hauptsache raus. Einfach mal was Anderes sehen und den Alltag vergessen. Das tut der Seele gut.“

Tinna versucht in allem das Gute zu sehen. „Jeder Mensch bekommt im Leben Aufgaben, die er zu bewältigen hat. Vielleicht ist das meine Aufgabe. Ich versuche das Gute zu sehen und positiv in die Zukunft zu blicken. Während der Chemotherapie ging es mir seelisch nicht gut. Ich habe mich immer wieder gefragt warum schon wieder ich? Warum passiert mir das wieder? Ist es Karma? Als mir der Arzt gesagt hat, dass meine häufigen Krebserkrankungen nicht genetisch bedingt sind, habe ich mir die Frage noch häufiger gestellt. Ein bisschen glaube ich, dass ich den Zeitpunkt der Erkrankungen mit schweren privaten Lebenssituationen verknüpfen kann. Das lässt sich natürlich nicht beweisen. Aber ich bin ein sehr sensibler Mensch und nehme mir Dinge immer sehr zu Herzen. Deshalb nehmen mich Schicksalsschläge auch immer stark mit. Und vielleicht hat das auch was mit meiner Erkrankung zu tun. Auch wenn ich es nicht sicher weiß, hilft mir der Gedanke beim Verstehen und Akzeptieren.“

Ich frage Tinna, ob sie Angst vor einer vierten Erkrankung hat. „Natürlich“, antwortet sie mir. „Manchmal mehr, manchmal weniger. Aber da ich für mich die Diagnosen mit meinem mentalen Gesundheitszustand verknüpfe, versuche ich einfach, künftig besser auf mein Seelenwohl aufzupassen. Ich weiß nicht was die Zukunft bringt, aber ich hoffe natürlich, dass das die letzte Diagnose war.“

Schon in der Würzburger Uniklinik wurde Tinna auf ihre Geschichte angesprochen. „Das, was ich erlebt habe, soll anderen Mut machen, wurde mir gesagt. Meine Geschichte kann anderen jungen Frauen, die an Krebs erkrankt sind helfen und vielleicht die Angst nehmen. Ich hatte nun dreimal Krebs. Ich habe ihn dreimal besiegt. Mir wurde entgegen aller Erwartungen ein Sohn geschenkt. Wenn ich mit meiner Geschichte anderen helfen kann, dann würde mich das sehr glücklich machen. Vielleicht ist das meine Aufgabe hier auf dieser Welt.“

 

Nachwort: Diese Geschichte soll Mut machen und Hoffnung schenken, für diejenigen, die sie benötigen. Tinnas Geschichte ist nur eine Geschichte von vielen. Ein Krankheitsverlauf von vielen. Jede Krebserkrankung verläuft anders, jeder Mensch ist anders. Es wird kein Anspruch auf Vollständigkeit, Richtigkeit oder Aktualität der Aussagen erhoben.

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